Fachkräftemangel und Generation Z – wie funktioniert Recruiting heute? BWL-Professor Peter M. Wald erforscht, wie Unternehmen Mitarbeitende finden – und halten
1992 wurde die HTWK Leipzig neu gegründet. In dieser Zeit waren Sie als Personaler in der Wirtschaft tätig. Heute lehren und forschen Sie an der HTWK Leipzig zum Personalmanagement. Welche „goldenen Regeln“ von vor 30 Jahren gelten heute noch?
Peter M. Wald: Gestern wie heute gilt, dass alle Beteiligten so behandelt werden sollten, wie man es selbst von anderen erwartet. Damit meine ich eine Zusammenarbeit und Kommunikation auf Augenhöhe, ohne dabei die gegenseitigen Erwartungen aus den Augen zu verlieren.
Welche Regeln gelten nicht mehr: Was verändert sich gerade bei der Personalbeschaffung?
Zu beobachten ist ein Wechsel vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt, denn Bewerberinnen und Bewerber können sich im Moment meist ihren Arbeitgeber aussuchen. Zugespitzt gesagt: Heute bewerben sich die Unternehmen um gute Mitarbeitende. Das liegt unter anderem an der demographischen Lage mit einem sich zuspitzenden Mangel an Fachkräften, aber auch an aktuellen Entwicklungen wie sich ändernden Erwartungen der jüngeren Generation und politischen Entscheidungen. Bei einem Stellenwechsel oder dem Berufseinstieg sind Recruiterinnen und Recruiter der erste Kontaktpunkt und bildet somit oft das „Gesicht“ eines Unternehmens. Mit den Erfolgen bei der Personalbeschaffung entscheiden auch sie über die künftige Leistungsfähigkeit der Unternehmen. Fehlbesetzungen oder Mitarbeitende, die das Unternehmen nach kurzer Zeit wieder verlassen, können gravierende Probleme nach sich ziehen. Dies sind einige der Gründe dafür, dass die Personalauswahl interdisziplinär, wissenschaftlich fundiert und systematisch erfolgen muss. Recruiterinnen und Recruiter müssen über aktuelle Kompetenzen im Bereich Eignungsdiagnostik verfügen und Kenntnisse zur Gestaltung einer optimalen Bewerbungserfahrung und zur Bedeutung der kulturellen Prägung von Bewerbenden einbringen. Und: Bei der Auswahl von Mitarbeitenden sollte es nicht nur um die Ist-Kompetenzen gehen – es sind vielmehr die Potenziale für eine weitere Entwicklung, die hier wichtig sind.
Welche Erwartungshaltung haben frisch Ausgebildete wie die HTWK-Absolventinnen und Absolventen, die auf den Arbeitsmarkt strömen?
Die Erwartungen betreffen erst einmal eine schnelle, faire und transparente Behandlung der Bewerbung. Bei den Arbeitsbedingungen geht es um hohe Flexibilität hinsichtlich Ort und Zeit, eine ausgewogene Work-Life-Balance und konkrete Möglichkeiten zur persönlichen Weiterentwicklung. Oft wird auch die Atmosphäre im Team und das konkrete Verhalten der Führungskräfte hervorgehoben. Bei ihrer Arbeit geht es vielen darum, dass sie sich weit stärker als bisher einbezogen und ernst genommen fühlen wollen und nicht nur Zeit und Ort der Arbeit, sondern auch die Zusammensetzung von Teams und Führungsfragen mitbestimmen möchten. Hier sollten auch mithilfe digitaler Medien Informationen verfügbar sein, um diese Mitsprache und -gestaltung zu befördern.
Mit welchen Methoden erforschen Sie die sich ändernden Trends auf dem Arbeitsmarkt?
Ausgangspunkte sind hier häufig Fragen aus der Praxis, die vor allem in Gesprächen mit Unternehmensvertretenden aufkommen. Bei vielen Studien gibt es deshalb Kooperationen mit Partnern, die ihre Sichtweise und Herausforderungen einbringen. Gemeinsam mit ihnen werden dann die zumeist quantitativen Studien mithilfe empirischer digital gestützter Befragungen durchgeführt und ausgewertet. So auch bei der vor kurzem abgeschlossenen Studie, die gemeinsam mit Jan Kirchner von der Wollmilchsau GmbH und Kai Helfritz von der Deutschen Gesellschaft für Personalführung e.V. durchgeführt wurde. Hier sollen neben Einblicken in das aktuelle Recruitinggeschehen auch qualitative und quantitative Vergleichsmaßstäbe – sogenannte Benchmarks – zur Orientierung und Neugestaltung in der Personalbeschaffung vorgelegt werden. Hinzu kommen weitere Themen, die im Rahmen studentischer Abschlussarbeiten eher qualitativ bearbeitet werden. Hier stehen derzeit auch Themen wie die Personalbeschaffung und -bindung im Handwerk im Mittelpunkt.
Wie können Personalverantwortliche die Ergebnisse der Studien konkret umsetzen?
In den meisten Studien sind Handlungsempfehlungen zu finden. Mit diesen erhalten die Unternehmen ganz konkrete Möglichkeiten, ihre Abläufe zu hinterfragen und gegebenenfalls gezielt zu verändern. Es gibt auch Formate wie den jährlichen HR Innovation Day an unserer Hochschule, die gute Möglichkeiten bieten, gemeinsam mit den Unternehmen über die Umsetzung neuer Erkenntnisse zu diskutieren. Ein großer Teil der Erkenntnisse hat bereits Eingang in verschiedene Social-Media-Formate wie beispielsweise Youtube-Videos gefunden. Insbesondere bei der Betreuung von Abschlussarbeiten kommt es oft zu interessanten Diskussionen, was die Umsetzung neuer Erkenntnisse durchaus befördert.
Mit welchen Maßnahmen und auf welchen Plattformen suchen Arbeitgeber erfolgreich Fachkräfte?
Im Vordergrund stehen, wie in der Vergangenheit, die klassischen Stellenanzeigen – die gegenwärtig vor allem digital in verschiedenen Jobbörsen gepostet werden. Hinzu kommt ein breites Spektrum neuer Recruiting-Aktivitäten, bei denen aktive Maßnahmen in den letzten Jahren maßgeblich an Bedeutung gewonnen haben. Neben Empfehlungen der Mitarbeitenden gewinnt hier das sogenannte Active Sourcing an Bedeutung: Hier sprechen die Unternehmen selbst potenzielle Mitarbeitende an. Des Weiteren gibt es verschiedene Recruiting-Events wie beispielsweise Messen und Aktionen wie das sogenannte Guerilla-Recruiting. Mit letzterem sind ungewöhnliche Maßnahmen gemeint, mit denen Unternehmen Kontakte zu potenziellen Mitarbeitenden aufbauen und über ihre freien Stellen informieren. Zunehmend wichtiger wird, dass bei der Ansprache, den Bewerbungsmöglichkeiten und der Auswahl neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verstärkt digitale Hilfsmittel benutzt werden.
Wer einmal eine gute Fachkraft gefunden hat, will sie möglichst halten – wie gelingt das?
Die gezielte Bindung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist von entscheidender Bedeutung für ein erfolgreiches Personalmanagement. Gebundene Mitarbeitende sind erfahrungsgemäß engagierter, unterstützen einander und zeigen eine höhere Veränderungsbereitschaft. Sie verfügen über Netzwerke innerhalb und außerhalb der Unternehmen und können dadurch als Botschafterinnen und Botschafter des Arbeitgebers agieren. Damit beeinflussen sie letztlich auch, wie gut das Recruiting neuer Fachkräfte gelingt. Bei der Bindung greifen die Unternehmen nicht nur auf die bereits erwähnten Maßnahmen zur Flexibilisierung der Arbeit zurück, sondern bieten gezielt nicht-monetäre Benefits an – unter anderem Job-Tickets, Sportangebote oder Weiterbildungen – aber auch Maßnahmen, die den persönlichen Bedürfnissen der Mitarbeitenden Rechnung tragen, wie eine Unterstützung bei sozialen Fragen.
Wohin geht die Entwicklung: Welche Werte, Erwartungen und Ziele werden Absolventinnen und Absolventen voraussichtlich in zehn Jahren besonders auszeichnen?
Zur Beantwortung dieser Frage ist ein Blick in meine Glaskugel nötig. Aber Spaß beiseite: Absolventinnen und Absolventen werden eine weitgehende Individualisierung und Flexibilisierung der Arbeit erwarten. Unternehmen werden hier verschiedene Möglichkeiten anbieten, die weit über das Thema Homeoffice hinausgehen. Diese Erwartungen richten sich auch auf die regelmäßige Berücksichtigung familiärer Belange hinsichtlich Nachwuchs aber auch bei der Pflege von Angehörigen. Arbeitgeber werden sich den Fragen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach dem Sinn ihrer Tätigkeit und der Nachhaltigkeit der Unternehmen und Produkte häufiger stellen müssen. Voraussetzung dafür ist, die Beziehung zwischen Mitarbeitenden und Unternehmen künftig neu zu denken. Es wird in der Zukunft auch weniger auf die genannten Maßnahmen an sich, sondern in erster Linie darauf ankommen, wie diese von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern empfunden und erlebt werden.
Möchten Sie jungen Absolventinnen und Absolventen einen Tipp mit an die Hand geben?
Ich empfehle, alle Möglichkeiten zu nutzen, um erst einmal Klarheit über die eigenen beruflichen und privaten Ziele zu erreichen. Wo will ich später arbeiten? Was will ich mit meiner Arbeit ganz konkret erreichen? Mit wem will ich zusammenarbeiten? Dabei auch immer offen für neue Entwicklungen und Trends zu sein, Dinge auszuprobieren oder zu experimentieren. Sehr wichtig ist mir auch der Hinweis darauf, den eigenen „Digital Footprint“ bei den Aktivitäten in den allgegenwärtigen Netzwerken bewusst und langfristig einzusetzen.
… und welchen Tipp geben Sie Firmen, die händeringend Fachkräfte suchen?
Bewährte Verfahrensweisen und Glaubenssätze im Personalmanagement sind ständig in Frage zu stellen und auf ihre Wirkung hin zu prüfen. Die Bindung der vorhandenen Mitarbeitenden ist und bleibt für mich das beste Recruiting. Es lohnt sich aus meiner Sicht, in ein digitales Talent-Relationship-Management – vor allem die Beziehung mit ehemaligen Mitarbeitenden, Praktikanten und abgelehnten Bewerberinnen und Bewerbern –, in die klassische Berufsausbildung und ein kluges Onboarding neuer Mitarbeitender zu investieren. Alles in allem braucht es überall mehr langen Atem und eine hohe Professionalität im Recruiting.
Die Fragen stellte Katrin Haase.